„Seit Auschwitz wissen wir, wessen der Mensch fähig ist.
Und seit Hiroshima wissen wir, was auf dem Spiel steht.“
Viktor Emil Frankl
Ruth Klüger (eigentlich Susanne Ruth Klüger) wurde am 30. Oktober 1931 in Wien als Tochter eines sozialdemokratischen jüdischen Arztes geboren. Ihr 1938 nach Frankreich geflüchteter Vater wurde genauso wie Ruths Halbbruder im Zuge des Holocausts ermordet.
Weil das Geld zur Flucht fehlte, musste Ruth Klüger nach dem Anschluss weiterhin in Wien leben und wurde 1942 als Elfjährige gemeinsam mit ihrer Mutter ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Hierzu äußerte sie sich in einem Spiegel-Interview:
Ich war noch keine sieben Jahre alt, als Hitler in Österreich einmarschiert ist. Ich war in der ersten Klasse. Mit dem Einmarsch der Deutschen fange ich überhaupt erst an, mich intensiv zu erinnern, weil diese Eindrücke ja auch rasant waren, jeden Tag irgendwas Neues. Wir jüdischen Kinder wurden aus der Schule ausgeschlossen, kamen erst in die eine jüdische Schule, dann in eine andere. Ich glaube, ich war in vier Jahren in sieben Schulen. Und ich habe natürlich nichts gelernt. (...)
[In Wien blieb ich ...] Bis 1942. Dann schickten Sie uns nach Theresienstadt, und dort war es sogar in einer Hinsicht besser: Da hatte ich es wieder mit Menschen zu tun. In Wien musste ich die ganze Zeit im finstren Zimmer sitzen und lesen, in meiner Not habe ich Unmengen von Gedichten auswendig gelernt. Ich kann die Schiller-Balladen noch immer auswendig. Bitte, fangen Sie nicht mit einer an, sonst höre ich nicht auf.
Es folgten weitere Deportationen nach Auschwitz-Birkenau und Christianstadt. Nur mit viel Glück entrinnt sie der Vernichtung. Auf dem Todesmarsch nach Bergen-Belsen gelang Ruth Klüger mit ihrer Mutter und ihrer Freundin Susi 1945 die Flucht.
Sie studierte in weiterer Folge zunächst in Regensburg und nach ihrer Emigration 1947 in New York Bibliothekswissenschaften sowie an der University of California at Berkeley Germanistik. Ihr erlittenes Trauma äußerte sich in Suizidgedanken, Depressionen und Albträumen und wirkte sich letztendlich schwerwiegend auf die Beziehung zu ihrem Mann und ihren beiden Söhnen aus. In ihrer Rede vor dem Deutschen Bundestag 2016 beschrieb sie:
Etwa zwölf Jahre später [nach 1945, Anm.d.Red.] schaue ich Susi, die meine lebenslange Wahlschwester wurde, in Kalifornien zu, wie sie mit ihren zwei kleinen Kindern im warmen Sand spielt. Die beschwichtigende, überlegene Stimme, 'mach dies oder jenes'. Plötzlich sehe ich uns wie damals, wir hocken beieinander im Steinbruch in der Kälte. Susi legt einen Arm um mich, ich wende mich weg, denn der Sand erstarrt zu schlesischem Granit, und das Kinderspiel ist düster geworden. Vom Steinbruch träum ich noch manchmal. Es ist ganz öde, ich möchte mich irgendwo wärmen, aber wo denn?
Über diese traumhafte und gestaltlose Öde habe ich später ein Gedicht verfaβt, ein "Landschaftsgedicht", nannte ich es. Es sind zusammenhanglose Traumbilder, Eindrücke eines Zustands, der Inbegriff des Arbeitslagers, wie ich es erlebte. Ich lese es vor:Auf dunklem Abhang steht ein lichtes Haus.
Im Steinbruch frieren Kinder. Eines hascht
nach einer Eidechse, die ihm entwischt.Ein Gesichtsloser
sucht sich zum Graben hinunterzuwälzen.Das Mädchen,
die tuchbedeckte Schüssel krampfhaft haltend,
läuft schluchzend ins lichte Haus.Im Steinbruch frieren Kinder in der rostigen Luft.
Unter eisernen Bäumen bücken sich wortlose Paare
und sammeln metallene Frucht.
Ruth Klüger wurde als Professorin unter anderem an die Universitäten von Princeton und California at Irvine berufen, als Gastprofessorin war sie an den Universitäten Göttingen, Wien und Tübingen tätig. Über ihre Gastprofessur am Institut für Germanistik an der Universität Wien im Sommersemester 2003 äußerte sie sich 2006 in einem Spiegel-Interview:
Ich habe dort [in Wien, Anm.d.Red.] auch eine Gastprofessur gehabt. Das war unangenehm. Die Kollegen waren unmöglich.
Und über ihre Geburtsstadt Wien (ibid.):
Wien schreit nach Antisemitismus. Also jeder Pflasterstein ist antisemitisch für mich in Wien. (...) Den [Antisemitismus, Anm.d.Red.] wird sie nicht los. Den will sie auch gar nicht loswerden, habe ich das Gefühl. Als man mich eingeladen hatte, bin ich mit dem Gefühl dahingegangen: "Das ist die Universität, an der dein Vater studiert hat." Und in den ersten paar Wochen hat mich immer die Idee verfolgt, mein Vater stehe hinter mir. Was würde der jetzt sagen? Und nach ein paar Monaten habe ich gewusst, was er sagen würde. Er würde sagen: "Schön blöd bist du, hierher zu kommen."
Ruth Klüger erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Österreichischen Staatspreis für Literaturkritik (1997), den Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch (2001), das Bundesverdienstkreuz erster Klasse der Bundesrepublik Deutschland (2008), den Wiener Frauenpreis (2008), den Theodor-Kramer-Preis für Schreiben im Widerstand und im Exil (2011) sowie die Ehrendoktorwürde der Universitäten von Göttingen (2003) und Wien (2015).
Ruth Klüger starb am 6. Oktober 2020 knapp vor ihrem 89. Geburtstag. Mit ihr verstummt erneut eine der letzten Zeuginnen dieser abscheulichsten Episode der deutschsprachigen Geschichte, die wie keine andere bis in die Gegenwart spürbar ist.
Bis zu ihrem Tod blieb Ruth Klüger eine vehemente Kritikerin des Antisemitismus. Erst kurz vor ihrem Tod kam es in Graz zu mehreren antisemitischen Angriffen auf die Synagoge und den Präsidenten der Grazer Jüdischen Gemeinde Elie Rosen (siehe unter anderem die Solidaritätsbekundungen unseres Kooperationspartners Centrum für Jüdische Studien sowie der Universität Graz).
Zu Ruth Klügers Publikationen zählen unter anderem:
- weiter leben. Eine Jugend (Göttingen: Wallstein, 1992). [Autobiographie]
- Landscapes of Memory. A Holocaust Girlhood Remembered (London: Bloomsbury Publishing, 2004).
- unterwegs verloren. Erinnerungen (Wien: Zsolnay, 2008).
- Was Frauen schreiben (Wien: Zsolnay, 2010).
- Zerreißproben. Kommentierte Gedichte (München: dtv, 2016).
Quellen und weiterführende Links:
>> Zwangsarbeiterinnen (Manuskript zur Rede vor dem Deutschen Bundestag am 27. Jänner 2016)
>> "Wien schreit nach Antisemitismus". In: Der Spiegel vom 31.8.2006
>> Ruth Klüger (Wien Geschichte Wiki)
>> Ruth Klüger (Wikipedia)
>> Czesława Kwoka (Wikipedia)